Aktuell in der MDR

Die Wiederholung der Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz (Schwenker, MDR 2024, 338)


Mit der Novellierung der ZPO zum 1.1.2002 ist an die Stelle des § 525 ZPO a.F., nach dem der Rechtsstreit in der Berufungsinstanz „von neuem verhandelt“ wurde, § 529 ZPO getreten. § 529 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass das Berufungsgericht seiner die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen hat, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten, sowie neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist. Der folgende Beitrag setzt sich anhand zwei aktuellen BGH-Entscheidungen mit der Frage auseinander, inwieweit die Vorstellungen des Gesetzgebers der ZPO-Reform zur Prüfungskompetenz für erstinstanzliche Tatsachenfeststellungen in der forensischen Praxis umgesetzt worden sind.


I. Einleitung

II. Aktuelle BGH-Rechtsprechung zur Prüfungskompetenz für erstinstanzliche Tatsachenfeststellungen

1. Andere Würdigung einer Zeugenaussage durch das Berufungsgericht

a) Sachverhalt

b) Entscheidung des Gerichts

2. Erneute Beweisaufnahme bei Möglichkeit unterschiedlicher Bewertung in der Berufung

a) Sachverhalt

b) Entscheidung des Gerichts

III. Bewertung der BGH-Rechtsprechung im Lichte der gesetzgeberischen Ziele

1. Erneute Zeugenvernehmung (V. Zivilsenat)

2. Erneute Tatsachenfeststellung (VIII. Zivilsenat)

a) Auslegung der Gesetzesmaterialien durch BGH

b) Widerspruch zu Wortlaut und Zweck der Norm

c) Einschränkung: Erfordernis konkreter Anhaltspunkte

IV. Fazit


I. Einleitung

Der Gesetzgeber des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses beabsichtigte, mit der Umgestaltung der Berufungsinstanz zu einem Instrument vornehmlich der Fehlerkontrolle und -beseitigung das Berufungsgericht von solchen Tatsachenfeststellungen zu entlasten, die bereits die erste Instanz vollständig und überzeugend getroffen hat. Funktion der Berufung sollte es nach dem Willen des Reformgesetzgerbers sein, das erstinstanzliche Urteil auf die korrekte Anwendung des materiellen Rechts sowie auf Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Feststellungen hin zu überprüfen und etwaige Fehler zu beseitigen. Im Regelfall obliegt damit der ersten Instanz die Feststellung der für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblichen Tatsachen § 529 ZPO als zentrale Vorschrift des Berufungsrechts rückt damit die Berufungsinstanz zwischen Tatsacheninstanz und reine Rechtskontrolle. Die Tatsachengrundlage schafft das erstinstanzliche Verfahren. Auch die Berufungsinstanz ist Tatsacheninstanz: Neue Tatsachen können aber nur eingeführt werden, wenn die Präklusion nach §§ 530, 531 ZPO nicht eingreift.

Wie die Vorstellungen des Gesetzgebers der ZPO-Reform – gut zwanzig Jahre nach der Reform – in die forensische Praxis haben umgesetzt werden können, soll anhand zweier neuerer Entscheidungen des BGH untersucht werden.

II. Aktuelle BGH-Rechtsprechung zur Prüfungskompetenz für erstinstanzliche Tatsachenfeststellungen

Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht den Vortrag einer Partei in der Berufungsbegründung aufgrund von rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden.

1. Andere Würdigung einer Zeugenaussage durch das Berufungsgericht

Wie zu verfahren ist, wenn das Berufungsgericht die Aussagen in erster Instanz vernommener Zeugen anders würdigen möchte als die Vorinstanz, hatte der V. Zivilsenat6 zu entscheiden. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.04.2024 11:20
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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