BGH v. 10.4.2024 - VIII ZR 114/22

Anforderungen an gerichtliche Prüfung des Vorliegens einer nicht zu rechtfertigenden Härte bei ernsthafter Suizidgefahr

Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsproblemen oder Lebensgefahr sind die Gerichte verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen und den hieraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltene Gebot gilt unabhängig davon, ob der Unfähigkeit des Mieters, die Konfliktsituation angemessen zu bewältigen, Krankheitswert zukommt oder nicht, und dass die Schutzbedürftigkeit des Mieters nicht allein dadurch entfällt, dass er an der Behandlung seiner psychischen Erkrankung, aus der eine Suizidgefahr resultiert, nicht mitwirkt.

Der Sachverhalt:
Der Beklagte wohnt seit 1988 mit seiner Lebensgefährtin in einer im Dachgeschoss gelegenen Zweizimmerwohnung des Klägers. Dieser hatte mit Schreiben vom 24.10.2019 die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.7.2020 wegen Eigenbedarfs erklärt. Die Beklagten widersprachen der Kündigung fristgemäß. Zur Begründung führten sie u.a. aus, die Kündigung stelle für sie eine besondere Härte dar, weil ein Umzug aufgrund ihrer gesundheitlichen sowie finanziellen Situation "schlicht unmöglich" sei.

Der Kläger die Beklagten gerichtlich auf Räumung und Herausgabe der Wohnung in Anspruch genommen. Das AG hat der Klage vollumfänglich stattgegeben. Das LG hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten nach Einholung eines schriftlichen psychiatrischen Sachverständigengutachtens und ergänzender Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen. Auf die Revision der Beklagten hat der BGH das Berufungsurteil insoweit aufgehoben, als die Härteregelung nach §§ 574 ff. BGB betroffen ist und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Gründe:
Die Beklagten haben mit Recht beanstandet, dass die Würdigung des Berufungsgerichts zu der Frage, ob die Beendigung des Mietverhältnisses für die Beklagten eine nicht zu rechtfertigende Härte bedeutet, von Rechtsfehlern beeinflusst war. Die Beurteilung der Vorinstanz hält sowohl hinsichtlich der Verneinung einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB als auch hinsichtlich der nach dieser Vorschrift vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen der Mietvertragsparteien in entscheidenden Punkten nicht stand.

Nach Senatsrechtsprechung können Erkrankungen i.V.m. weiteren Umständen einen Härtegrund darstellen. In bestimmten Fällen, nämlich wenn der gesundheitliche Zustand einen Umzug nicht zulässt oder im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters, Familien- oder Haushaltsangehörigen besteht, kann sogar allein dies ein Härtegrund sein (vgl. Urteile v. 22.5.2019 - VIII ZR 180/18; v. 3.2.2021 - VIII ZR 68/19; v. 13.12.2022 - VIII ZR 96/22). Werden von dem Mieter substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht, haben sich die Tatsacheninstanzen beim Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild zu verschaffen.

Zwar hatte das LG die Suizidankündigung beider Beklagten - in Übereinstimmung mit dem Gutachten - im Hinblick darauf als ernsthaft bewertet, dass diese bereits einen konkreten Plan entwickelt und Vorbereitungen in Form einer Ansammlung von Medikamenten getroffen hätten. Rechtsfehlerhaft hat es indessen der hieraus resultierenden Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Beklagten allein deshalb keine Bedeutung bei der Prüfung des Vorliegens einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB beigemessen, weil der diesbezügliche Wille von den Beklagten frei gebildet worden sei und sich als im Rahmen ihrer freien Willensbildung gewählte Reaktionsstrategie auf den möglichen Verlust ihrer Wohnung darstelle. Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht in der erforderlichen Weise gerecht.

Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsproblemen oder Lebensgefahr sind die Gerichte verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen und den hieraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Insofern hatte der Senat – allerdings erst nach Erlass des Berufungsurteils - eine Härte i.S.v. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB beim Bestehen der (sehr) hohen Gefahr eines Suizids des Mieters für den Fall des Erlasses eines Räumungsurteils angenommen (vgl. Urt. v. 26.10.2022 - VIII ZR 390/21). Hierbei wurde betont, dass das in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltene Gebot unabhängig davon gilt, ob der Unfähigkeit des Mieters, die Konfliktsituation angemessen zu bewältigen, Krankheitswert zukommt oder nicht, und dass die Schutzbedürftigkeit des Mieters nicht allein dadurch entfällt, dass er an der Behandlung seiner psychischen Erkrankung, aus der eine Suizidgefahr resultiert, nicht mitwirkt.

Letztlich hat sich die Vorinstanz die Möglichkeit einer sachgerechten Gewichtung des von den Beklagten geltend gemachten Härtegrunds dadurch genommen, dass es für den Fall einer ihnen günstigen Würdigung (offensichtlich) von vornherein allein die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit als Regelungsfolge in Betracht gezogen (und für nicht angemessen befunden) hatte. Insoweit hat das LG in unzulässiger Weise die Interessenabwägung im Rahmen des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB mit der bei einem gegebenen Fortsetzungsanspruch zur Bestimmung der Zeitdauer einer anzuordnenden Verlängerung des Mietverhältnisses vorzunehmenden Prognose über die Fortdauer eines Härtegrunds gem. § 574a Abs. 2 BGB vermengt.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | BGB
§ 574 Widerspruch des Mieters gegen die Kündigung
Lützenkirchen, Mietrecht, 3. Aufl.

Rechtsprechung:
Härtefallprüfung im Räumungsverfahren
BGH vom 13.12.2022 - VIII ZR 96/22
Norbert Monschau, MietRB 2023, 65

Beratermodul Mietrecht und WEG-Recht:
Die perfekte Basisausstattung zum Mietrecht und Wohnungseigentumsrecht für Praktiker. Jetzt topaktuell mit Beiträgen u.a.: Übersicht zu den neuen §§ 5 u. 6a HeizkostenV - Teil I, Wohnungseigentum - praktische Fragen zur Eintragung von Beschlüssen. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO: Wann immer es zeitlich passt: Für Fachanwälte bietet das Beratermodul Beiträge zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 07.05.2024 11:26
Quelle: BGH online

zurück zur vorherigen Seite